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Die Dirigentin

Im Interview

Die Dirigentin

Marie Jacquot spricht über ihren außergewöhnlichen Weg vom angehenden Tennisprofi zur Ersten Kapellmeisterin. Sie erläutert die Psychologie hinter dem Dirigieren und erklärt, warum sie den Begriff des Erfolgs ablehnt. 

Marie Jacquot

Über Marie

Sie wuchs als Jüngste von drei Geschwistern in der Nähe von Paris auf. Da ihr Vater selbst als Kind zwischen einer Sportart und dem Erlernen eines Instruments wählen musste, war ihm wichtig, dass jedes seiner Kinder sowohl ein Instrument spielte als auch einem Sport nachging. Marie entschied sich für Klavier, Posaune und Tennis und wurde eine begeisterte Tennisspielerin. Mit nur 15 Jahren gehörte sie zu den besten fünf Spielerinnen in Frankreich. Doch mit zunehmendem Erfolg vermisste Marie das, was sie ursprünglich zum Tennis gezogen hatte: Das Spiel. Der Druck der Einzelkampfsituation wurde zu viel und sie beendete ihre Tenniskarriere.

Obwohl die Musik bisher nicht im Fokus gestanden hatte, hatte Marie eine große Leidenschaft für das Posaunenspiel im Orchester entwickelt. Dort fand sie den spielerischen Aspekt wieder, der ihr im Tennis verlorengegangen war. So entschied sie sich, Posaunistin zu werden, zog mit 15 Jahren nach Paris um und begann dort ihr Studium der Posaune. An den Wochenenden fuhr sie in ihre Heimatstadt und spielte weiter im Orchester. Sie begeisterte sich für den Dirigenten des Orchesters und fragte ihn nach Dirigierunterricht. Das Dirigieren fiel ihr leicht, da sie durch ihre Erfahrungen im Tennis die psychischen und physischen Herausforderungen gut bewältigen konnte. Inspiriert durch ihr Vorbild entschied sich Marie, Dirigentin zu werden. 

Sie bestand die Aufnahmeprüfung an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien und startete als eine von 5 Frauen unter 50 Studierenden. Im Jahr 2016 erhielt Marie trotz ihres jungen Alters eine Stelle als Erste Kapellmeisterin in Würzburg, anschließend in Düsseldorf. Mit der Spielzeit 2024/25  wird sie Chefdirigentin des Königlich-Dänischen Theaters in Kopenhagen.

Reingezoomt

Ein Arbeitstag

„Der Tagesablauf ist davon abhängig, ob es sich um ein Symphoniekonzert oder um eine Opernproduktion handelt. Aktuell arbeite ich in Dresden an einer Opernproduktion. Das beinhaltet folgende Arbeitsschritte: 

In der Vorbereitung arbeite ich mich in die Werke ein. Dazu gehört, dass ich mich mit den sozialpolitischen und kunstgeschichtlichen Rahmenbedingungen auseinandersetze, mich in die Zeitgeschichte und das Leben des Komponisten einarbeite. Dann beginnen die Proben. In Dresden wird zweimal täglich für jeweils 3 Stunden geprobt. Dabei probe ich zunächst mit den Sängern, dann mit dem Orchester. Dann folgen Proben mit Sängern und Orchestern und schließlich gemeinsam mit der Regie. Dann kommt die Generalprobe und schließlich die Phase der Aufführungen. Zwischen den Proben und Aufführungen arbeite ich immer an einem anderen Programm, welches ich im Voraus vorbereiten muss.“ 

"Ich mag das Wort Erfolg nicht. Jeder Tag ist es wert, gelebt zu werden. Ich freue mich auf jeden schönen Moment, in dem ich mit Menschen musizieren und arbeiten kann."

Marie Jacquot

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Work-Life-Balance

„Als Dirigentin ist eine Work-Life-Balance möglich, wenn man – so wie ich – eine Agentur hat, die einen zu 200 Prozent unterstützt. Wenn ich mehr Zeit brauche, bekomme ich die. Work-Life-Balance ist mir auch wichtig, denn das Dirigat ist nicht mein Leben. Mein Leben besteht darin, zu leben.“

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Das Thema Traumberuf

„Ich glaube unbedingt, dass jede Person ihren Traumberuf suchen sollte. Leider glaube ich aber auch, dass nicht jeder seinen Traumberuf findet. Denn viele haben nicht die Vorbilder, die ihnen den Weg weisen. Das hat auch viel mit dem Genderkonzept zu tun. Mir persönlich war das Genderkonzept für Berufe nie bewusst. Ich habe nie ein weibliches Vorbild gebraucht, um Posaune zu spielen oder zu dirigieren. Ich glaube aber schon, dass das für viele Frauen ein Punkt ist: Sie verfolgen eine bestimmte Laufbahn nicht, weil sie das entsprechende Vorbild nicht haben.“

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Sollte man wissen, wo man in 10 Jahren stehen möchte?

„Nein. Ich lebe im Moment. Natürlich habe ich Pläne und mein Kalender ist lange im Voraus voll. Aber ich weiß auch, dass viel Ungeplantes passieren kann. Daher möchte ich die Zeit im Hier und Jetzt genießen und das gelingt mir auch. Aber ich weiß auch, dass ich bisher sehr viel Glück im Leben hatte, mit mir selbst im Reinen bin und von meiner Leidenschaft leben kann. All das sind Gründe, die dafür sorgen, dass es mir gut gelingt, im Moment zu leben.“

"Mit 24 Jahren habe ich mir eine Frist gesetzt: Wenn ich bis 30 keinen Job als Dirigentin gefunden hätte, hätte ich etwas anderes gemacht. Als ich dann zwei Jahre später in Würzburg fest angestellt wurde, habe ich für mich entschieden: Alles, was jetzt dazu kommt, ist ein Geschenk."
Marie Jacquot

Dirigentin

Der Job

Wie wird man Dirigentin?

Um Dirigentin zu werden, muss man Musikerin sein. Man sollte ein Instrument auf einem sehr hohen Niveau beherrschen, idealerweise Erfahrungen im Orchester haben. Dann hat man eine Chance, die Aufnahmeprüfung für ein Dirigierstudium zu bestehen. Dieses Studium, welches an Musikhochschulen stattfindet, endet nach 8 Semestern mit dem Bachelorabschluss. Ein Masterstudium kann angeschlossen werden. Nach dem Studium arbeitet man zunächst meist als Assistenz und hat dann mit viel Fleiß, Disziplin und Glück die Möglichkeit, zur Dirigentin aufzusteigen.

Marie empfiehlt jedoch zusätzlichen Privatunterricht bei Dirigenten, wenn wirklich der Wunsch besteht, eine Karriere zu machen. Das habe sich noch nicht so verbreitet, sei aber die beste Möglichkeit, gefördert zu werden. 

Wie sind die Verdienstmöglichkeiten?

Die Verdienstmöglichkeiten sind sehr unterschiedlich – vor allem im freien Arbeitsverhältnis gibt es keine Standardentlohnung. Am Anfang einer Karriere verdient man sehr wenig. Wenn man es schafft, in einem deutschen Theater als Kapellmeisterin angestellt zu werden, kann man gut davon leben. Je höher man es in der Karriere schafft, desto höher sind die Gehälter. Doch viele schaffen es nicht, eine erfolgreiche Karriere zu machen.

Welche Stressoren bringt der Beruf mit sich?

  • Vor dem Orchester zu stehen
  • Konflikte mit Musikern
  • Das viele Reisen
  • Zeitdruck in der Vorbereitung
  • Mögliche Komplikationen bei den Aufführungen
  • Man muss während des Dirigats gedanklich gleichzeitig in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sein. Das ist psychisch und körperlich sehr anstrengend.

Welche Glücksmomente gibt es?

„Es ist ein Glücksmoment, sich gemeinsam mit tollen, offenen und begeisterungsfähigen Menschen einer Sache voll widmen zu können. Dieser Prozess ist mir wichtiger als das Ergebnis.“

Welche Eigenschaften sollte man als Dirigentin haben?

  • Authentizität: Es gibt kein typisches Persönlichkeitsprofil für den Dirigentenberuf. Daher sollte man nicht versuchen, eine Rolle zu spielen. 
  • Überzeugungskraft: Dirigieren ist Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit. Man hat 60 bis 80 Musiker vor sich, die alle unterschiedliche Meinungen haben. Als Dirigentin muss man überzeugend genug sein, dass sie einem folgen.

Letztlich ist es wenig greifbar, was eine gute Dirigentin ausmacht. Es hat viel damit zu tun, ob man die richtigen Menschen und Momente trifft. Ebenso ist es eine Glückssache, ob eine Agentur gerade einen Platz frei hat. Daher ist es sehr schwer, vorauszusagen, wer erfolgreich sein wird und wer nicht. 

"Meine größte Leidenschaft ist die Musik, und über die Musik mit Menschen zu arbeiten."
Marie Jacquot

Denkanstöße

Marie Jacquot zeichnet das Bild eines komplexen, anspruchsvollen und außergewöhnlichen Berufsbildes. Dirigieren besteht nicht nur aus dem Handwerk des sauberen Taktgebens und der Interpretation der Musik. Vielmehr geht es darum, Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Meinungen zu koordinieren und zu vereinigen. Auch wenn ein Orchester aus Einzelpersonen besteht, gibt es doch auch immer eine Wechselwirkung zwischen der ganzen Gruppe und der dirigierenden Person. Es wird daher sehr viel von „Chemie“ zwischen Dirigentin und Orchester gesprochen. Manchmal merkt man, dass es niemals passen wird. Manchmal ist Arbeit notwendig. Und manchmal passt die Chemie sofort. Marie hat das in Kopenhagen erlebt: „Ich habe einmal dirigiert und die Chemie war so toll, dass feststand, dass ich dort als Chefdirigentin hinkommen muss.“ 

Aufgrund der Komplexität und Ungreifbarkeit des Berufsbildes betont Marie, dass ihre Perspektive nur eine von vielen ist. Um den Beruf der Dirigentin wirklich zu begreifen, müsse man idealerweise unterschiedliche Dirigenten und Dirigentinnen eine Weile begleiten: „Jeder hat seine eigene Wahrheit.“

Als Dirigentin ist es zentral, einen Umgang mit den zahlreichen Stressfaktoren zu finden. Marie lässt sich durch den Stress wenig beeinflussen: „Ich probiere, immer mein Bestes zu geben. Wenn das nicht genug ist, dann kann ich nichts dafür. Vielleicht hilft es dabei auch, dass ich im Tennis den Stress und Druck so oft erlebt habe, dass ich das nun aus der Distanz sehen kann.“

Marie Jacquot hat mich auf mehreren Ebenen inspiriert – sowohl durch ihre Gelassenheit, ihre Bescheidenheit, ihr Interesse an Menschen und ihrer Einstellung zum Leben und Lernen: „Für mich ist es der Sinn des Lebens, sich selbst besser kennenzulernen. Und wie geht das? Nur durch die Konfrontation und Kommunikation mit anderen Menschen. Als Dirigentin ist dieser Lernprozess endlos. Ich lerne jeden Tag etwas über Musik, die Menschen, mich selbst und das Leben.“

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Hier erfährst Du mehr über Marie Jacquot

Kennst Du schon das Interview mit der Sängerin TONIA? Auch sie bewegt sich in einem Berufsfeld, welches durch große Unsicherheiten, aber auch größte Glücksmomente geprägt ist.

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