Gesundheit

„Einfach alles geht mir nahe!“ Wie hochsensible Menschen ein gutes Leben führen können

Stell Dir vor, Du triffst Dich mit zwei Freunden am Bahnsteig. Die Bahn fährt ein. Du bemerkst, wie die Freundin links von Dir noch etwas zu Dir sagt. Auch nimmst Du wahr, was sie sagt, doch Du kannst Dich nicht darauf konzentrieren, denn die Bahn ist mittlerweile nur wenige Armlängen von euch entfernt und sie ist einfach extrem laut. Du hast den Impuls, dir die Ohren zuzuhalten. Als Kind hast Du das in solchen Situationen auch gemacht. Aber hier am Bahnsteig unter lauter Erwachsenen verzichtest Du unter schmerzverzerrtem Gesicht darauf. Du wunderst Dich nur, warum Deine Freunde die Lautstärke scheinbar gar nicht stört.

Sensorische Verarbeitungsempfindlichkeit nennt man eine Persönlichkeitseigenschaft, die populärwissenschaftlich auch als „Hochsensibilität“ bezeichnet wird. Hochsensible Menschen nehmen Reize stärker wahr, denken länger und intensiver darüber nach und reagieren stärker auf ihre Umgebung. Ungefähr 20 Prozent aller Menschen zählen in diese Kategorie1. 

Dieser Artikel ist für Dich interessant, wenn Du…

  • Wissen möchtest, warum es Hochsensibilität gibt
  • Herausfinden möchtest, ob Du hochsensibel bist
  • Herausfinden möchtest, welche Vorteile diese Eigenschaft mit sich bringt
  • Besser mit Hochsensibilität leben möchtest

Hype oder wissenschaftliches Konstrukt?

Hochsensibilität hat so schnell mediale und populärwissenschaftliche Aufmerksamkeit gewonnen, dass die Wissenschaftlichkeit dieser Persönlichkeitseigenschaft länger umstritten war. Mittlerweile existieren jedoch wissenschaftlich validierte Skalen, um Hochsensibilität zu messen. Außerdem scheint Hochsensibilität ein von anderen Persönlichkeitseigenschaften unabhängiges Merkmal9 zu sein und es scheint auch auf neuronaler Ebene und auch im Tiermodell10 Zusammenhänge zu Hochsensibilität zu geben. Das Ganze ist also mehr als ein Hype – jedoch ist Vorsicht geboten. Hochsensibilität ist keine psychische Erkrankung. 

Warum gibt es Hochsensibilität?

Evolutionspsychologen gehen davon aus, dass Hochsensibilität eine Überlebensstrategie ist. Individuen, die starker auf ihre Umgebung reagieren, bemerken Gelegenheiten wie Nahrung oder potentielle Partner schneller. Außerdem sind sie in der Lage, schneller auf Gefahren zu reagieren. Diese Strategie ist aber für einen Organismus nur so lange effektiv, wie die Vorteile die Nachteile überwiegen. Und Nachteile gibt es zweifelsohne, denn die permanente erhöhte Wachsamkeit führt zu stärkerer körperlicher und kognitiver Erschöpfung2.

Hochsensibilitäts-Test

Dir Psychologin Dr. Elaine Aron prägte in den 90er Jahren den Begriff der sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit. Sie entwickelte einen Test aus 27 Fragen, um die Ausprägung dieses Persönlichkeitsmerkmals einschätzen zu können. 

Wenn Du mehr als 14 Fragen mit „ja“ beantwortest, dann gehörst Du vermutlich zu der Gruppe der hochsensiblen Personen. Du verarbeitest Informationen dann tiefer und gründlicher als viele andere (zum Beispiel stellst Du mehr Dinge in Frage, bist nachdenklicher). Dein vegetatives Nervensystem ist leicht aktivierbar (zum Beispiel schwitzt Du schnell). Du fühlst Dich schnell gestresst, bist emotional schnell berührt und verfügst über eine höhere sensorische Empfindlichkeit (gegenüber Lärm, Schmerz etc.).

Vorteile von Hochsensibilität

Hochsensibilität ist oftmals unangenehm. Du bemerkst mehr als andere Menschen, bist reizoffener, bist schneller angestrengt und schneller gereizt. Du brauchst mehr Zeit für Dich und bist nicht unbedingt der Mittelpunkt jeder Party. Außerdem haben hochsensible Menschen ein höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken3. Vermutlich hast Du diese Nachteile oftmals gespürt und vielleicht wünschst Du Dir manchmal, Du hättest ein dickeres Fell. Jedoch kommt diese Persönlichkeitseigenschaft – wie übrigens jede Persönlichkeitseigenschaft – nicht nur mit einem Strauß von Nachteilen daher. Schauen wir uns die oft übersehenen Vorteile von Hochsensibilität einmal an.

Gesteigerte Empathie

Als hochsensible Person bist Du schneller in der Lage zu sehen, was eine andere Person möchte oder braucht. Das macht Dich zu einem extrem wertvollen Partner oder Freund, denn die Menschen in Deinem Umfeld bemerken das und werden sich wohl bei Dir fühlen. Daher mach Dir bewusst, dass dies keine 0-8-15-Fähigkeit ist. Es ist eine essentielle Stärke in allen Lebensbereichen, die mit Menschen zu tun haben. Auch wenn es Dich selbst vielleicht oftmals eher stört als befriedigt, immer als erstes zu wissen, was gerade „in der Luft liegt“: Du hast einen extrem hohen Wert für andere Menschen, den Du niemals unterschätzen solltest!

Bessere Merkfähigkeit

Du hast ein reicheres Innenleben und verarbeitest alle Reize eine Stufe tiefer als andere. Da Du schnell emotional angesprochen bist, verknüpfst Du Reize auch eher mit Emotionen. Diese beiden Faktoren tragen dazu bei, dass Dinge schneller im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden4. Vermutlich trifft das besonders auf soziale Informationen zu. Vielleicht gerätst Du ab und zu in Situationen, in denen andere überrascht sind, dass Du Dir diese oder jene Information über sie gemerkt hast? Vielleicht halten Dich auch einige Menschen für sehr intelligent?

Dir entgeht nichts

Vermutlich entgeht Dir selten etwas. Du nimmst nicht nur wahr, wenn es zwischen Deinen Kolleginnen Claudia und Petra mal wieder kriselt, sondern bemerkst ebenfalls schneller als andere, ob die Kaffeemaschine merkwürdige Geräusche macht, oder ob ein Produkt fehlerhaft ist. Das wiederum macht Dich zu einer wertvollen Arbeitskraft, denn Du bist theoretisch sehr gut in der Lage, Verbesserungsvorschläge zu machen oder Feedback zu Prozessen zu geben. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, diese Fähigkeit an Deinem Arbeitsplatz gezielt zu nutzen, indem Du eine Aufgabe übernimmst, in der Du und Dein Team von dieser Stärke profitieren?

Hoher Sinn für Ästhetik

Hochsensible Personen sind offener für Ästhetik als andere Menschen5. Das bedeutet, dass Du vermutlich Dinge häufiger aus dem Blickwinkel der Schönheit betrachtest. Außerdem hast Du ein besseres Auge dafür, welche Dinge zusammenpassen. Schöne Dinge berühren Dich mehr als andere Personen. Auch bist Du vermutlich kreativer als andere Menschen6. Vielleicht hast Du ein künstlerisches Hobby, wahrscheinlich spricht Dich Musik sehr stark an. In gestalterischen Berufen bist Du daher sehr gut aufgehoben.

Weniger Langeweile

Hochsensible Menschen können sich oft stundenlang in eine Sache vertiefen. Sie benötigen weniger Stimulation von außen. Während andere Menschen ihr Wochenende mit Aktivitäten zupflastern und beinahe schon Angst bekommen, wenn ein Samstag mal ohne Verabredung vonstatten geht, kannst Du vermutlich sehr gut in den Tag hineinleben. Da Du Reize intensiver wahrnimmst und länger über Dinge nachdenkst, tritt der Zustand der Langeweile bei Dir vermutlich längst nicht so schnell ein wie bei anderen Menschen.

Book Signing & Reading

Wie kannst Du als hochsensible Person Dein Leben einfacher gestalten?

Um von Deinen Stärken profitieren zu können, hier ein paar Tipps, um Deinen Alltag zu erleichtern. 

Tipp

Verstehe Deine Stärken!

Viele hochsensible Menschen haben bisher eher unter den negativen Aspekten gelitten als von den Stärken profitiert. Das hat oftmals auch mit dem Umfeld zu tun. Die Stärken hochsensibler Menschen werden nicht in jeder Situation gesehen oder wertgeschätzt, woraufhin sich oft ein Teufelskreis entwickelt: Die hochsensible Person zieht sich zurück, wird vielleicht sogar mürrisch oder unnahbar, das Umfeld reagiert negativ, was wiederum zu mehr Rückzug der hochsensiblen Person führt. Daher ist der erste Schritt, die eigenen Stärken anzuerkennen und zu beginnen, diese aktiver nach außen zu zeigen.

Tipp

Gestalte Dein Umfeld aktiv!

Hochsensible Menschen reagieren nicht nur stärker auf negative Umweltbedingungen, sondern auch auf positive7. Wenn ein hochsensibles Kind in einem lauten, aggressiven oder chaotischen Elternhaus aufwächst, wird es stärkere Folgeerscheinungen davontragen als seine weniger sensiblen Geschwister. Kommt es allerdings in eine positive und wertschätzende Umgebung, wird es mehr davon profitieren als andere. Zum Beispiel ist der schulische Erfolg von hochsensiblen Kindern stärker abhängig von der Lehrkraft oder dem Klassenklima. Wenn Du nun um den starken Einfluss Deines Umfelds weißt, dann ist das auch eine Möglichkeit, diesen zu nutzen. Such Situationen und Menschen auf, die Dir guttun. Meide Situationen, die Dir Energie nehmen!

Tipp

Bewältige Stress!

Um von den Stärken, die Deine Hochsensibilität mitbringt, profitieren zu können, ist es für Dich essentiell, einen guten Umgang mit Stress zu finden. Welche Strategie in Deinem individuellen Fall gut funktioniert, ist sehr individuell. Ich rate Dir, mehrere Strategien auszuprobieren. Das vegetative Nervensystem kann durch Yoga, Meditation, autogenes Training oder einfache Atemübungen (tiefe Bauchatmung) beruhigt werden. Außerdem ist es für Dich wichtig, eine regelmäßige sportliche Aktivität zu verfolgen. Behalte zudem chronischen Stress im Blick, denn Faktoren, die über eine lange Zeit zu wiederkehrendem Stress führen, sind am schädlichsten8.

Tipp

Setze Grenzen!

Ob Deine Hochsensibilität zu einem Vorteil wird, hängt stark davon ab, ob Du lernst, Dich selbst gegen die einströmenden Reize abzuschirmen. Das gilt nicht nur für physikalische Reize, sondern insbesondere für soziale Reize. Aufgrund Deiner hohen Empathie, die dazu führt, dass Du Menschen schnell verstehst, hast Du vermutlich Probleme damit, Grenzen zu setzen. Vielleicht ist das die schwierigste Lektion für Dich als hochsensible Person, denn Grenzen zu setzen fühlt sich niemals gut an. Du wirst viel darüber nachgrübeln, ob das nun richtig war, diese Grenze zu setzen. Dein Umfeld wird vielleicht auch zunächst negativ reagieren, denn Du warst doch sonst immer so hilfsbereit?! Über lange Zeit wirst Du aber dadurch profitieren, Dein Umfeld wird Dich mehr respektieren und Dein Stressniveau wird sinken.

Verwendete Literatur

[1] Lionetti, F., Aron, A., Aron, E. N., Burns, G. L., Jagiellowicz, J., & Pluess, M. (2018). Dandelions, tulips and orchids: Evidence for the existence of low-sensitive, medium-sensitive and high-sensitive individuals. Translational psychiatry8(1), 1-11.

 

[2] Wolf, M., Van Doorn, G. S., & Weissing, F. J. (2008). Evolutionary emergence of responsive and unresponsive personalities. Proceedings of the National Academy of Sciences105(41), 15825-15830.

 

[3] Liss, M., Timmel, L., Baxley, K., & Killingsworth, P. (2005). Sensory processing sensitivity and its relation to parental bonding, anxiety, and depression. Personality and individual differences39(8), 1429-1439.

 

[4] Yonelinas, A. P., & Ritchey, M. (2015). The slow forgetting of emotional episodic memories: an emotional binding account. Trends in cognitive sciences19(5), 259-267.

 

[5] Bröhl, A. S., Van Leeuwen, K., Pluess, M., De Fruyt, F., Bastin, M., Weyn, S., … & Bijttebier, P. (2020). First look at the five-factor model personality facet associations with sensory processing sensitivity. Current Psychology, 1-12.

 

[6] Griffin, M., & McDermott, M. R. (1998). Exploring a tripartite relationship between rebelliousness, openness to experience and creativity. Social Behavior and Personality: an international journal26(4), 347-356.

 

[7] Belsky, J. & Pluess, M. (2009). Beyond diathesis stress: Differential susceptibility to environmental influences. Psychological Bulletin, 135, 885–908.

 

[8] Dai, S., Mo, Y., Wang, Y., Xiang, B., Liao, Q., Zhou, M., … & Zeng, Z. (2020). Chronic stress promotes cancer development. Frontiers in Oncology10, 1492.

 

[9] Pluess, M., Assary, E., Lionetti, F., Lester, K. J., Krapohl, E., Aron, E. N., & Aron, A. (2018). Environmental sensitivity in children: Development of the Highly Sensitive Child Scale and identification of sensitivity groups. Developmental psychology, 54(1), 51.

 

[10] Acevedo, B., Aron, E., Pospos, S., & Jessen, D. (2018). The functional highly sensitive brain: a review of the brain circuits underlying sensory processing sensitivity and seemingly related disorders. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 373(1744), 20170161.

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