Die Psychiaterin
Im Interview
Die Psychiaterin
Dr. Stephanie Tieden ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitet als Oberärztin in einer großen psychiatrischen Klinik. Sie liefert wertvolle Einblicke in ihren Arbeitsalltag als Oberärztin im Depressionszentrum und spricht über die Herausforderungen des Berufsfeldes sowie ihre persönlichen Glücksmomente.
About
Über Stephanie Tieden
Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist Dr. Stephanie Tieden seit 2020 Oberärztin im Depressionszentrum an einer psychiatrischen Klinik. Hier behandelt sie Menschen mit Depressionen sowohl stationär als auch ambulant. Und dieser Beruf ist ihre große Leidenschaft. Denn depressive Patient:innen liegen Stephanie besonders am Herzen, da sie dort sowohl in der Rolle der Psychiaterin mit biologischen Verfahren und Psychopharmaka unterstützen kann, als auch in der Rolle der Psychotherapeutin im Gespräch Beistand leisten kann.
Was Stephanie von vielen anderen Psychiater:innen unterscheidet ist zudem ihre Präsenz in den sozialen Medien. Sie richtet sich an depressiv erkrankte Menschen und deren Angehörige, informiert, klärt auf und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Entstigmatisierung. Zudem liegt ihr auch die „Entmystifizierung der Halbgötter in Weiß“ am Herzen. Durch authentische Einblicke in ihren Klinikalltag zeigt sie, dass auch Psychiater:innen Menschen mit guten und schlechten Tagen sind.
Ich traf Stephanie zum Interview, um mit ihr über den Aufstieg innerhalb eines streng hierarchisch geprägten Berufsfeldes, ihren Arbeitsalltag, die Rolle der Frau in der Medizin sowie ihre Leidenschaft für den Beruf zu sprechen.
Reingezoomt
Ein Arbeitstag
„Um 8 Uhr startet die Morgenübergabe der Klinik. Dort werden die Oberärzt:innen durch die diensthabenden Ärzt:innen über die Ereignisse der Nacht informiert. Man bespricht mögliche Verlegungen von der Akutstation auf spezialisiertere Stationen und andere organisatorische Dinge. Um 8:30 Uhr folgt dann die Morgenübergabe auf meiner Depressionsstation. Wir sitzen dann im multiprofessionellen Stationsteam zusammen (Mitarbeitende aus Pflege, ärztl., psycholog., sozialtherapeutischen und ergotherapeutischem Dienst) und besprechen die aktuellen Belange der Station.
Ab ca. 9:15 Uhr starte ich dann in meinen mehr oder weniger selbststrukturierten Tag. Ich bin ärztlich für alle Patient:innen der Station veranwortlich und führe als Bezugstherapeutin mit 2-4 Patient:innen auch selbst psychotherapeutische Einzelgespräche. Oft sehe ich auch noch einige meiner ambulanten Patient:innen zwischendurch zu Gesprächen. Einmal wöchentlich haben wir auch eine oberärztliche Visite im Gesamtteam mit allen Patient:innen, zusätzlich auch nochmal mehrfach Fallbesprechungen in unterschiedlichen kleineren Teams. Ich bespreche die Aufgaben der Assistenzärzt:innen mit diesen und plane mit ihnen die konkreten einzelnen Behandlungsschritte. Aufnahmeberichte und Entlassbriefe müssen geschrieben bzw. korrigiert werden und Diagnosen erstellt und begründet werden. Dabei soll natürlich auch die Weiterbildung nicht zu kurz kommen. Mind. einmal pro Woche führe ich auch die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) durch. Jeden Tag sehe ich mir natürlich auch die neu aufgenommenen Patient:innen persönlich an und bin auch für akute Belange der Kolleg:innen und Patient:innen ansprechbar. Dazu kommen dann auch noch unterschiedliche Klinikkonferenzen und andere Sitzungen. Und leider habe ich sehr, sehr viel Schreibtischarbeit, die Bürokratie wird gefühlt jährlich immer mehr. Manchmal bin ich gefühlt mehr Verwalterin als aktive Behandlerin für meine Patient:innen.“
Erfolg bedeutet für mich, den Menschen sichtbar helfen zu können und für eine bessere Lebensqualität zu sorgen.
Stephanie
Was denkst du über ...
Work-Life-Balance
„Ich habe das Glück, in einem extrem sinnstiftenden Beruf zu arbeiten. Das Arztsein erfüllt mich sehr, was auch die leider täglich anfallenden Überstunden für mich erträglicher macht.
Ich empfinde es als unglaubliches Privileg, sagen zu können, dass ich für mich den tollsten Beruf der Welt gefunden habe, auch wenn die Arbeit oft sehr zeitintensiv und fordernd ist. Trotzdem fände ich es schon deutlich schöner, mehr Zeit mit meiner Familie verbringen zu können, das fehlt mir schon.“
Was tust Du, um nicht auszubrennen?
„Für mich ist Achtsamkeit mit der Zeit wirklich wichtig geworden. Früher habe ich andere eher belächelt, die meditieren und Yoga betreiben. Doch mittlerweile ist auch mir klar geworden, dass eine achtsame Grundhaltung viel positiv verändert. Mittlerweile hänge ich nach der Arbeit in einer Art persönlichem Ritual ganz bewusst meinen Kittel weg und verlasse dann mit einem aktiven gedanklichen Prozess als Privatperson die Klinik, die Frau Doktor lasse ich dort. Viel Zeit für explizite Meditationen oder anderes habe ich nicht, aber ich versuche, im Alltag achtsame Elemente einzubauen. Zum Beispiel gehe ich absichtlich sehr gerne zu Fuß zur Arbeit und mache auch kleine Umwege durch die Natur. Dann komme ich in einem erholten und achtsameren Zustand an und bin weniger gestresst. Aktuell bin ich auch dabei, eine Ausbildung zur MSBR-Trainerin zu machen (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion = Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR). Das ist wissenschaftlich gut fundiert, hilft mir persönlich, aber auch meinen Patient:innen.“
Was denkst du ...
Sollte man wissen, wo man in 10 Jahren stehen möchte?
„Zehn Jahre sind als Zeitraum nicht vorhersehbar. Natürlich wünsche ich mir, auch dann noch als Psychiaterin tätig zu sein und natürlich wünsche ich mir weiterhin gute Beziehungen zu Familie und Freunden. Aber mehr als vage Pläne machen da für mich keinen Sinn. Über ein Jahr plane ich konkret aktuell nicht hinaus.“
Psychiaterin
Der Job
Wie wird man Psychiaterin?
Um Psychiaterin zu werden, absolviert man ein klassisches, mind. 12 Semester langes Medizinstudium und anschließend als Assistenzärztin eine Facharztweiterbildung, welche mind. fünf Jahre dauert. Nach einer erfolgreichen Prüfung kann man dann als Fachärztin in Krankenhäusern oder niedergelassen in Facharztpraxen arbeiten.
Wie sind die Verdienstmöglichkeiten?
Die Verdienstmöglichkeiten sind für Ärzt:innen recht gut, je nach Arbeitgeber gibt es unterschiedliche Tarifverträge (kommunale Arbeitgeber, Unikliniken, private Träger). Als Assistenzärztin beginnt man in einem kommunalen Haus mit 58.000 Euro Jahresgehalt für 40 Wochenarbeitsstunden, im Verlauf gibt es dann weitere Steigerungen. Als Oberärztin verdiene ich aktuell 96.000 Euro im Jahr. Gemessen an der Lebenszeit, die man aber ins Studium und dann später auch in unangenehme Dienstzeiten investieren muss, würde ich aber nie nur des Geldes wegen Medizin studieren.
Welche Stressoren bringt Dein Beruf mit sich?
Der Alltag in der akuten Patientenversorgung ist immer abwechslungsreich und erfordert oft sehr spontane Entscheidungen mit aber durchaus weitreichenden Folgen. Mit dieser Entscheidungsgewalt geht eine große Verantwortung einher. Am schwierigsten fallen mir die Entscheidungen, bei denen ich nicht aus freien Stücken allein zum individuellen Patientenwohl entscheiden kann, sondern durch die Vorgaben des Gesundheitssystems gebunden bin, die den Rahmen oft sehr eng stecken. Oft gibt es da Diskrepanzen zwischen der idealen und wünschenswerten Behandlung und der dann aber tatsächlich auch real umsetzbaren Behandlung. Wir haben im Gesundheitssystem einen so starken Personalmangel in allen Berufsgruppen, dass leider vieles nicht so gut in Realität umsetzbar ist, wie wir es uns wünschen würden. Die Bürokratie ist leider nochmal ein großer zusätzlicher und unbefriedigender Zeitfresser.
Welche Glücksmomente gibt es?
Ein großer Glücksmoment ist es immer wieder, wenn man die Entwicklung von einer schwer depressiven Person zu einer Person, die weder Freude und Hoffnung empfinden kann, mitverfolgen kann.
Welche Eigenschaften sollte man als Psychiaterin haben?
- Interesse am ganzen Menschen
- Neugier
- Bereitschaft, sich auf Menschen einzulassen
- Leidensfähigkeit
- Durchhaltevermögen
Denkanstöße
Stephanie brennt für die Medizin, weil das Feld die perfekte Kombination aus einer naturwissenschaftlichen Fundierung und einer sozialen Komponente ist. Die Sinnfrage muss sie sich in ihrem Beruf nie stellen. Durch ihren Beruf hat Stephanie ihre eigenen Grenzen kennengelernt. Sie hat gelernt, dass sie spontan und flexibel sein kann, obwohl das früher nicht unbedingt ihre eindeutigen Stärken waren. Als weibliche Person mit Kind auf einer Oberarztposition ist Stephanie aber noch immer in einer Minderheit, denn die Medizin ist noch sehr hierarchisch organisiert und für Frauen – insbesondere mit Familie – ist es in dem System oft schwerer. Um Oberärztin zu werden, ist es in den meisten Kliniken immer noch notwendig, in Vollzeit zu arbeiten, das lässt sich oftmals mit einer Familienplanung schwer kombinieren.
„Ich lebe wieder in meiner Heimatstadt und habe vor Ort eine tolle Unterstützung durch meine Eltern. Mein Mann arbeitet nicht im medizinischen/sozialen Bereich und hat eine größere Flexibilität in seiner Arbeitszeitgestaltung. So können wir die Kinderbetreuung relativ gut aufteilen, auch wenn ich zum Ende der offiziellen Betreuungsangebote noch längst nicht in der Klinik fertig bin“, so Stephanie.
Das Interview hat mich sehr inspiriert, da Dr. Stephanie Tieden meiner Meinung nach ein hervorragendes Beispiel für eine Person ist, die sich innerhalb des Kliniksystems in eine Spitzenposition hochgearbeitet hat, ohne dafür ihre eigene psychische Gesundheit oder ihre Familienplanung aufzugeben. Zudem zeigt sie auf authentische und unkonventionelle Art ihrer Online-Community, dass auch Oberärztinnen nur Menschen sind und trägt damit zur Nahbarkeit des Berufsbildes bei. Großes Kompliment!
Kennst Du schon das Interview mit der Rechtsanwältin Smaro Sideri? Auch Smaro trägt zur Nahbarkeit ihres Berufsfeldes bei, indem sie ihre Community durch den Alltag als Anwältin führt.
Ein Kommentar
Pingback: