Wie kannst Du Deine unerfüllten Grundbedürfnisse stärken? 4 konkrete Tipps plus Bücherempfehlung
Das wirklich Herausfordernde am Leben ist diese große Verantwortung, Dich selbst glücklich machen zu müssen. Das ist wirklich eine riesige Aufgabe. Es kann Angst machen. Es kann Druck machen. Es kann herausfordern. Aber: Es kann tatsächlich auch Spaß machen. Wie das?
Eine wichtige Voraussetzung für den Spaß an dieser Lebensaufgabe ist es, zu verstehen, was Du willst. Willst Du eine Weile im Ausland verbringen? Willst Du diesen Job annehmen? Willst Du Dich selbstständig machen? Willst Du Brownies für Omas Geburtstag backen? Willst Du online daten? Willst Du vegan leben? Willst Du in Aktien investieren? Willst Du Kinder?
Gnothi seauton – „Erkenne Dich selbst!“ ist eine Inschrift am Apollotempel von Delphi. Die Notwendigkeit für Selbsterkenntnis geht also bis mindestens ins antike Griechenland zurück. Spätestens sobald Du erwachsen geworden bist, wird in der Regel von Dir erwartet, dass Du so viel Selbsterkenntnis besitzt, dass Du weißt, was Du willst.
Und ich bin sicher, Du gibst Dein Bestes. Dennoch kennst Du es vielleicht, dass sich ab und zu eine gewisse Unzufriedenheit bemerkbar macht. Du merkst, dass Dir etwas fehlt, möchtest etwas ändern. Das ist völlig normal und sogar notwendig, um Dich weiterzuentwickeln. Aus dem Wunsch etwas zu ändern entsteht ein Ziel, später ein Weg, noch später ein Ergebnis.
Wenn aber ein Bedürfnis in Deiner Entwicklung über lange Zeit unerfüllt war, stellt sich allerdings ein Gefühl des chronischen Mangels ein1. Du versuchst dann permanent, eine weitere Verletzung dieses Bedürfnisses zu verhindern, oftmals um jeden Preis. Oftmals entkoppelt sich Deine Wahrnehmung hier auch von der Realität und Du fühlst Dich in Situationen, in denen andere Menschen ein erfülltes Bedürfnis hätten, dennoch so, als sei das Bedürfnis unerfüllt. Du fühlst Dich in diesem Zustand nicht gut, oftmals ist er von Angst begleitet und kann zu psychischen Störungen führen. Um zu erkennen, ob bei Dir ein solch chronischer Mangel vorliegt, und zu schauen, was Du dagegen tun kannst, ist es erst einmal wichtig, die Grundbedürfnisse zu kennen.
Welche Grundbedürfnisse gibt es?
Der bekannte deutsche Psychotherapeut und Forscher Klaus Grawe geht von vier menschlichen Grundbedürfnissen aus1. Ich möchte Dir erzählen, wie diese Bedürfnisse heißen und woran Du erkennst, ob sie bei Dir chronisch unerfüllt sind.
1. Bindungsbedürfnis
„Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht.“
Ludwig Börne
Das Bindungsbedürfnis führt dazu, dass wir uns anderen Menschen nah und verbunden fühlen möchten. Das gilt nicht nur für enge Bezugspersonen, sondern auch für Beziehungen zu Arbeitskollegen oder Bekannten.
Wenn dieses Bedürfnis in Kindheit und Jugend nicht ausreichend erfüllt wurde, stellt sich eine permanente Angst vor einer weiteren Verletzung dieses Bedürfnisses ein. Das äußert sich meistens in großer Angst vor dem Verlassenwerden.
Menschen entwickeln dann Strategien, um das Verlassenwerden zu verhindern. Oftmals schaden diese Strategien ihnen und ihren Mitmenschen aber eher und führen häufig zu einem Teufelskreis. Man spricht daher von dysfunktionalen Strategien.
Hier sind zwei Beispiele. Vielleicht findest Du Dich wieder?
Antonia ist eine attraktive Frau Anfang 30. Obwohl sie keine Schwierigkeiten beim Kennenlernen von Männern hat, ist sie mit ihrem Beziehungsleben sehr unzufrieden. Für Antonia wäre es das Schlimmste, wenn sie von einem Partner verlassen werden würde. Um sich diesem Gefühl nicht aussetzen zu müssen, bricht sie ihre Partnerschaften oftmals abrupt ab, sobald es zum Streit kommt. Ebenfalls neigt sie zu Affären, um ein „Back-up“ zu haben, sollte es zur Trennung kommen. Sie befindet sich in einem Teufelskreis, da sie durch ihr Verhalten verhindert, dass eine stabile Beziehung überhaupt entstehen kann
Eric hat Probleme beim Dating. Es ist jedes Mal dasselbe: Er lernt eine interessante Frau kennen. Meist ist diese am Anfang auch interessiert – denn er ist ein kluger Mann und aufmerksamer Zuhörer. Er hat jedoch schlechte Erfahrungen gemacht und daher große Angst, verlassen zu werden. Daher fordert er in frühen Stadien des Kennenlernens schon sehr viel Zuneigungsbekenntnisse ein. Er macht ganz viel für die jeweilige Frau. Wenn diese sich nicht schnell genug meldet, fragt er wiederholt nach, ob „alles in Ordnung“ sei oder ob er „etwas falsch gemacht“ habe. Durch dieses Verhalten fühlen sich die Frauen oft unter Druck gesetzt und verlieren das Interesse. Auch Eric befindet sich in einem Teufelskreis, da er durch sein Verhalten unbewusst verhindert, dass eine stabile Beziehung entstehen kann.
2. Bedürfnis nach Kontrolle / Selbstbestimmung
„Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht“
Johann Wolfgang von Goethe
Dieses Bedürfnis äußert sich in dem Wunsch, zu wissen, was um uns herum passiert, und Einfluss darauf nehmen zu können. Wenn das der Fall ist, fühlen wir uns sicher. Wenn das nicht der Fall ist, fühlen wir uns hilflos.
Wenn dieses Bedürfnis in der Entwicklung oft verletzt wurde, kann sich eine permanente Angst vor dem Kontrollverlust einstellen.
Max ist ein sehr intelligenter junger Mann Anfang zwanzig. Er kommt aus einem sehr kontrollierenden und besorgten Elternhaus. Bis zu seinem 18. Lebensjahr wurden ihm alle Entscheidungen abgenommen. In seiner Berufsausbildung kommt es nun zu Problemen: Max hat Angst davor, dass sich das Abhängigkeitsverhältnis, was er gegenüber seinen Eltern empfunden hat, nun wiederholt. Er reagiert auf Anordnungen seines Vorgesetzten sehr allergisch, hinterfragt alles mehrfach. Sein Vorgesetzter informiert ihn, dass der Betrieb ihn mit dieser Arbeitseinstellung nicht übernehmen wird. Max befindet sich in einem Teufelskreis, in dem die Angst vor mangelnder Selbstbestimmung dazu führt, dass er in der Hierarchie Schwierigkeiten hat, aufzusteigen und somit durch sein Verhalten seine Befürchtung befeuert.
3. Bedürfnis nach Lustgewinn / Unlustvermeidung
„Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile Doch! du bist so schön! Dann magst Du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“
Johann Wolfgang von Goethe
Wir Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis, angenehme Dinge zu erleben. So wollen wir leckeres Essen in angenehmer Gesellschaft genießen oder an schönen Orten sein. Unangenehme Dinge lehnen wir eher ab.
Wenn das Bedürfnis nach Lustgewinn in der Entwicklung frustriert wurde, zum Beispiel Freude bestraft oder lustvolle Aktivitäten verboten wurden, dann entwickelt sich eine permanente Angst vor einer weiteren Verletzung des Bedürfnisses. Um das zu verhindern, liegen auch hier oftmals dysfunktionale Strategien vor:
Ruth wurde als Kind beigebracht, dass es eine Sünde sei, sich zu vergnügen. Sie durfte im Gegensatz zu anderen Kindern nicht ins Kino oder Schwimmbad, sondern wurde angehalten, zu lernen und im Haushalt zu helfen. Heutzutage wohnt sie fernab von ihrem alten Umfeld. Sie geht jeden Abend mit Freunden in Bars und Clubs, trinkt mehrere Gläser Alkohol und ist eine begeisterte Konsumentin von Partydrogen. Im Alter von 32 Jahren merkt sie mittlerweile zunehmend die körperlichen Folgen von Schlafmangel und Alkoholkonsum. Auch Ruth befindet sich in einem Teufelskreis, da sie durch ihr Verhalten langfristigen Lustgewinn eigentlich verhindert.
4. Bedürfnis nach Selbstwertschutz / Selbstwerterhöhung
Trau keiner Stimme in Deinem Inneren, die nicht liebevoll zu Dir spricht.
Rolf Merkle
Wir alle möchten das Gefühl haben, gut und wertvoll, zumindest aber in Ordnung zu sein.
Hat es uns in der Entwicklung an einer wertschätzenden Umgebung gefehlt, so wurde dieses Bedürfnis frustriert. Dementsprechend fürchten wir weitere Verletzungen dieses Bedürfnisses sehr und haben permanente Angst, nicht „gut genug“ zu sein. Um dieses Gefühl zu verhindern, können sich zum Beispiel folgende dysfunktionale Strategien entwickelt haben:
Seit dem Beginn von Evelyns Studium ist es jedes halbe Jahr dasselbe: Sie macht sich einen genauen Lernplan und weiß genau, wann sie anfangen müsste, in ihre Unterlagen zu schauen und alles noch einmal durchzugehen. Doch tief drinnen ist Evelyn davon überzeugt, dass sie eigentlich zum Studieren zu dumm ist. Das wurde ihr früher in der Schule immer gesagt. Daher schiebt Evelyn das Lernen auf. So lange, bis es zu spät ist und die Zeit nicht reicht, um alles nochmal durchgehen zu können. Das zeigt sich auch in den Noten: Evelyn besteht – wenn überhaupt – die Klausuren nur knapp. Sie befindet sich in einem Teufelskreis, in dem sie das, wovor sie so Angst hat (nämlich: festzustellen, dass sie nicht gut genug zum Studieren ist), durch ihr Verhalten selbst provoziert.
Wie kannst Du dem Gefühl des chronischen Mangels vorbeugen und Deine Grundbedürfnisse stärken?
Wenn Du bemerkst, dass ein Grundbedürfnis nicht erfüllt ist, solltest Du Dich als erstes fragen: Verhindere ich durch mein Verhalten, dass mein Bedürfnis erfüllt wird? Befinde ich mich in einem Teufelskreis, so wie Antonia, Eric, Max, Ruth oder Evelyn? Wenn Du diese Frage mit Nein beantworten kannst, kannst Du die folgenden Tipps beherzigen.
1. Stärkung des Bindungsbedürfnisses: Verbessere die Qualität Deiner Beziehungen.
Der effektivste Weg, um Deine Beziehungen qualitativ zu verbessern, ist, Dir wirklich Zeit zu nehmen und zu überlegen, was die wichtigen Personen aus Deinem Umfeld gerade brauchen und wo sie stehen. Antizipation, also Vorwegnahme, ist hier das Stichwort. Hat jemand gerade einen neuen Job angefangen? Dann könntest Du antizipieren, dass die Person gerade aufgeregt ist, vielleicht auch etwas überfordert. Melde Dich bei der Person und sag ihr, dass Du gerade an sie gedacht hast und dass sie sich bestimmt sehr aufgeregt fühlt wegen des neuen Jobs. Hab keine Angst, etwas Falsches zu antizipieren. Das ist gar nicht schlimm. Die Person wird sich so oder so geschmeichelt fühlen, dass Du Dir Gedanken um ihre Gefühle gemacht hast, selbst wenn Du den Nagel nicht auf den Kopf getroffen hast. Eine wichtige Voraussetzung für diese Strategie ist es, der Person vorher zugehört zu haben, um zu wissen, was gerade in ihrem Leben passiert.
Buchempfehlung: Wenn Du Dein Netzwerk stärken und stabile Beziehungen aufbauen willst, empfehle ich Dir den Klassiker „How to Win Friends & Influence People“ von Dale Carnegie.
2. Stärkung des Bedürfnisses nach Kontrolle: Definiere klare Ziele. Reduziere „Baustellen“.
Oftmals entsteht das Gefühl der schwindenden Kontrolle dadurch, dass Du zu viele Dinge tust. So entstehen eine gewisse Zerrissenheit und der Eindruck, dass Dir die Sachen über den Kopf wachsen. Reduziere das Chaos, indem Du Dich fragst: Was ist jetzt wirklich wichtig? Womit erziele ich am zuverlässigsten Ergebnisse? Konzentriere Dich dann eine Weile nur auf diese Sache. Du wirst bald Erfolge sehen, was Dein Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Kontrollierbarkeit deines Lebens befriedigt.
Buchempfehlung: Wenn Du mehr Kontrolle übernehmen möchtest und Baustellen reduzieren möchtest, empfehle ich Dir „Essentialism“von Greg McKeown.
3. Stärkung des Bedürfnisses nach Lustgewinn: Was macht Dir eigentlich Spaß?
Die Befriedigung dieses Bedürfnisses wird von der Gesellschaft am wenigsten thematisiert und läuft oft irgendwie nebenbei. Es wird angenommen, dass es den meisten Leuten Spaß macht, eine Serie zu schauen und nicht so viel Spaß, die Wohnung zu putzen. Oftmals führt das dazu, dass viele Menschen gar nicht wissen, was ihnen wirklich Spaß macht – wie sie also dieses Bedürfnis befriedigen können.
Weißt Du, was Dir wirklich Spaß macht? Magst Du Sport oder ist das für Dich eher Anstrengung? Gehst Du gerne aus oder machst Du es Dir lieber zuhause bequem? Ist es vielleicht abhängig von der Tagesform? Stell Dir diese Fragen und probiere Dich etwas aus! Es ist für Dein Wohlbefinden unglaublich wichtig, dass Du weißt, was Dir Spaß macht.
Buchempfehlung: Bei der Suche kann Dir „101 ways to live well“ von Lonely Planet helfen.
4. Stärkung des Bedürfnisses nach Selbstwerterhöhung: Stärke Deine Selbstakzeptanz durch ein Positivitätstagebuch.
Die Effekte eines Positivitätstagebuch, in welches Du Dich ausschließlich auf die positiven Aspekte eines Tages konzentrierst, hat nachgewiesene Effekte auf die Lebenszufriedenheit3. Schreibe Dir auf, was Du geschafft hast (und sei es auch noch so klein und unbedeutend). Der Wirkfaktor dieses Tagebuchs ist Folgender: Du wirst mit der Zeit einen Positivitäts-Filter aufbauen, Dich und die Dinge, die Dir passieren, in einem positiv gefärbteren Licht sehen. Versuch es über ein paar Wochen konsequent und ich gararantiere, dass Du Effekte sehen wirst.
Buchempfehlung: Ein sehr inspirierendes Buch zu diesem Thema ist „Du musst nicht von allen gemocht werden: Vom Mut sich nicht zu verbiegen“ von Ichiro Kishimi und Fumitake Koga.
Literatur
[1] Becker, P. (2006). Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Göttingen: Hogrefe Verlag.
[2] Grawe, K. (2000). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe
[3] Işık, Ş., & Ergüner-Tekinalp, B. (2017). The effects of gratitude journaling on Turkish first year college students’ college adjustment, life satisfaction and positive affect. International Journal for the Advancement of Counselling, 39(2), 164-175.
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